Marathon laufen ist wie sterben und neu geboren werden. Schließlich ist es allgemein bekannt, dass der Vater des Marathons – Pheidippides – bei seiner Ankunft in Athen tot zusammenbrach, nachdem er die Nachricht zum Sieg über die Perser verkündet hatte. Sterben ist also unweigerlich Teil des Marathons oder nicht?

Nun aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass man an einen Punkt kommt an dem der Tod gar nicht so abwegig scheint. So wird es eine immer größere Qual zu laufen, sich weiter zu bewegen. Mit jedem Kilometer wird die Last größer, die man trägt und mit jedem schritt wächst die Anstrengung. Aber das paradoxe daran ist, dass man es genießt und zugleich hasst.

 

In der Nacht von Samstag auf Sonntag hatte ich mit einer Allergie zu kämpfen und konnte aufgrund von blockierten Atemwegen kaum oder nur schlecht schlafen. Denkbar ungünstig vor einem Marathon. Wochenlang hatte ich auf diesen Tag hingearbeitete. Teils paranoid war ich geworden. Die letzten drei Wochen vor dem Marathon war ich penibel darauf bedacht, nicht krank zu werden. Mir bloß nichts einzufangen, da ich unbedingt laufen wollte. Und nun lag ich die halbe Nacht wach mit kratzen im Hals und laufender Nase. War es die Allergie oder wurde ich krank? Ich konnte es nicht sagen. Mir ging es körperlich gut, doch meine Schleimhäute waren gereizt. Ich horchte in meinen Körper hinein und fragte mich, ob ich laufen könnte. Ich fühlte mich gut und so beschloss ich, dass ich an den Start gehen wollte.

Je näher der Start rückte desto mehr verflüchtigten sich meine Symptome und ich wurde zuversichtlich. Die ersten Kilometer liefen verblüffend gut. Ich achtete sehr streng darauf, wie sich mein Körper verhielt. Mir war klar, dass ich bei Anzeichen von Schwäche oder einer echten Erkältung aus dem Rennen aussteigen würde, doch das war nicht der Fall. Je weiter ich voranschritt desto besser fühlte ich mich.

 

Bei Kilometer 21 fühlte ich mich unbesiegbar. Ich passierte die Halbmarathon-Marke in 1:50 und war damit für meine Verhältnisse ziemlich zügig unterwegs – sogar schneller als alles, was ich mir erträumt hätte. Doch mir war bewusst, dass das wahre Rennen erst jetzt anfing.

Bei Kilometer 28 merkte ich, wie meine Beine langsam müde wurden. Ab Kilometer 31 ging es dann nochmal bergauf und der Mann mit dem Hammer schwebte drohend über mir. Hatte ich genug gegessen und getrunken unterwegs? War ich noch auf Kurs? Würde ich es ins Ziel schaffen? Diese Fragen begannen an mir zu nagen.

 

Der Anstieg schien nicht mehr enden zu wollen. Ich rechnete jeden Kilometer hoch, kalkulierte wann ich im Ziel sein würde und wann diese Tortur ihr Ende finden würde. Da es ein Rundkurs über zwei Runden war und die Halbmarathonis schon im Ziel waren, war es auf der Strecke leer geworden. Ich kämpfte mich Seite an Seite mit einem anderen Marathoni den Berg hinauf. In stillschweigender Vereinbarung war uns beiden klar, dass wir dieses Rennen nur gemeinsam beenden würden. Der Eine gab dem Anderen das Tempo vor, sodass wir uns nicht aufgaben.

Zentgrafenstraße erklommen. Kilometer 37 auf der Uhr. Mir war klar, dass es jetzt langsam bergab ging. Das Ende war nah. Es müsste jetzt einfacher werden, doch es wurde nicht einfacher. Meter um Meter quälte ich mich. Die Oberschenkel waren schwer, die Erschöpfung scheinbar unendlich; Es runter, durch die Innenstadt, vorbei am Staatstheater und ab in die Karlsaue. Bergab rollte es.

Die letzten 2 Kilometer brachen an.

 

Körperlich fühlte ich mich ok. Meine Beine waren schwer. Ich konnte sie nicht mehr richtig heben. Das erste Mal überhaupt schien es mir so, als könnte ich diesen Lauf nicht zu Ende bringen. Mir war bewusst, wie lange die Strecke noch war – wie weit ich noch laufen musste. Ich war sie schon oft genug mit den Fahrrad abgefahren und auf der ersten Runde abgelaufen. Doch auf der ersten Runde bin ich förmlich vorbeigeflogen, nun quälte ich mich.

Als ich schließlich abbog auf die Menzelstraße war die Anstrengung überwältigend. Ich hatte gehofft auf dem letzten Kilometern noch einmal eine zweite Luft zu bekommen, noch einmal Reserven zu finden, die bislang verborgen waren. Aber auf dem harten Asphalt schien mir die Kraft zu schwinden.

 

Meine Augen suchten verzweifelt nach dem Eingang zum Stadion. Ich wusste, dass dort eine letzte Runde anstand. Und ich sehnte mich danach die Tartanbahn zu betreten und von den Zuschauern ins Ziel getragen zu werden – metaphorisch natürlich. Schließlich sah ich Licht am Ende des Tunnels. Vor dem Stadion warteten viel der Staffelläufer und -Läuferinnen auf ihre Kameraden. Sie gröhlten und jubelten. Ich atmete auf. Eine alte Bekannte vom Laufcup Waldeck-Frankenberg stand dort und sprach mir Mut zu.

 

Ohrenbetäubend plärrten die Boxen im Stadion, als ich durch den Tunnel ins Innere kam. Meine Füße berührten den Tartan. Jeder Zweifel war wie weggefegt. Ich wusste, dass diese letzten knapp 400Meter auch noch drinne waren. Sofort sortierte ich mich auf der Innenbahn ein. Mit jedem Meter den ich zurückgelegt hatte, wurde mir wieder bewusst, warum ich das Laufen so liebte. Ich war im flow im Tunnel und zog auf der Zielgeraden noch einmal das Tempo an. Keuchend und komplett außer Atem kam ich ins Ziel.

Für das erste Mal seit 3:48:44h kam ich zum stehen und stütze mich auf meinen Beinen ab. Auf der Tribüne erblickte ich meine Verlobte und meine Mutter. Sie jubelten. Lächelnd winkte ich ihnen zu, ging ein paar Meter und bekam meine wohlverdiente Medaille umgehangen. Drei Meter weiter ließ ich mich ins Gras fallen und begann zu atmen. Ich realisierte, was für einen Kraftakt ich vollbracht hatte. Wie sehr ich mich unterwegs zerstört hatte. Ich hatte den paranoiden Nils bezwungen und kam nun geläutert aus der Asche hervor.

 

Seit langer Zeit hatte ich mit Zweifeln zu kämpfen, ob ich jemals wieder an meine Stärken von vor meiner Knieverletzung anknüpfen konnte. Ich hatte mich in Selbstmitleid gebadet, hatte mich gequält und war immer ernüchtert gewesen mit meinen Ergebnissen. Zwei Mal war ich einen Marathon auf eigene Faust gelaufen und hatte meine Zeit von 2015 knapp unterboten. Ich war stolz darauf, dass ich wieder so laufen konnte, doch mir gleichzeitig vollkommen bewusst, dass dies nicht alles gewesen sein konnte. Ich kratzte an der Oberfläche meines Potenzials. Nun lag ich auf dem Rasen und hatte meine Zeit von 2015 um knappe 10 Minuten unterboten. Die sieben Jahre zwischen diesen beiden Marathons haben mich so einiges gelehrt und haben mir gezeigt, dass ich in mich selbst vertrauen darf. Dieser Marathon hat mir gezeigt, dass ich meine Paranoia und mein Gefühl von Minderwertigkeit ablegen darf. Vielleicht habe ich mit diesem Lauf andere beeindruckt, aber mir ist klar, dass ich vor allem einen beeindruckt habe und zwar mich selbst.

Und ist es nicht das worauf es ankommt? Sich selbst zu beeindrucken und seine eigenen Grenzen zu überwinden. Manchmal vergesse ich das und denke, es ist die Welt, die ich beeindrucken muss.

 

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Doch dieser Glaube kann einen auf lange Sicht nur zerstören. Die eigenen Gedanken sind der größte Feind und ihn zu bezwingen ist eine lebenslange Aufgabe.

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